Einige Wochen sind seit meinem Besuch auf dem Schafhof vergangen. In Freiburg holte mich mein Freund Ja mit dem Auto ab. Zusammen mit T fuhren wir nach Benest in der Charente, wo wir unsere Freunde A und Jo trafen. Wir verbrachten gemütliche Sommertage zusammen im niedlichen Benest, badeten in einer kühlen Quelle, bauten einen Ofen aus Lehmerde und Zweigen und buken darin Pizza.
Ja reiste als erster ab und fuhr mit dem Auto nach Bordeaux. T und ich folgten ihm einige Tage später. Zusammen mit Ja und T fuhren wir an den Atlantischen Ozean und blieben dort einige Tage, bevor sich unsere Wege erneut trennten. Diesmal reiste ich mit T über Marseille an die Côte d’Azur, wo wir meine Oma besuchten.
Diese Wochen nach meiner Abreise vom Schafhof waren wunderbar, voll mit Gemeinschaft und Freundschaft, die mir die Kraft für die nächsten Etappen meiner Reise gaben.
Autarkie im Eichenwald
Nachdem T schließlich wieder nach Hamburg zurückgekehrt ist, führe ich meine Reise fort. Mit einem Fahrrad, das ich bei meiner Oma finde, fahre ich 60 km ins Innere des Landes. In einem Waldstück zwischen Figanières und Draguignan treffe ich D und S, die für eine knappe Woche meine Gastgeber werden. Es werden heiße Tage. Nachmittags steigen die Temperaturen auf über 40°C und nur morgens und abends können wir arbeiten. Der Wald besteht aus knorrigen Korkeichen und gekrümmten Kiefern. Der Boden ist mit dürrem und dornigen Gestrüpp bewachsen. Wilder Thymian, wilder Lavendel und wenige trockene Gräser bilden die spärliche Bedeckung der rötlichen Erde. Auf dem Grundstück von D und S ragen große Kalksteinfelsen wie zerstreute Riesenzähne aus dem Boden. Ein zusammengestürzter Ziegenstall aus EURO-Paletten schmiegt sich an einen alten Wohnanhänger mit zertrümmerten Scheiben, in dem ich während meines Besuchs hausen werde. Dahinter schließt sich ein Hühnerstall an, in dem Hühner, Enten Kaninchen und eine einsame Schildkröte leben.
D und S wohnen in einer kleinen Steinhütte am unteren Ende des am Hang gelegenen Grundstücks. Es gibt weder einen Strom- noch einen Wasseranschluss. Einige Fotovoltaikpaneele decken den alltäglichen Strombedarf und ein Benzingenerator versorgt bei Bedarf größere Stromverbraucher.
Im Winter decken die beiden Einsiedler ihren Wasserbedarf mit Regenwasser. Doch im Sommer regnet es häufig viele Monate nicht. Mit einem IBC-Container auf ihrem Pickup-Truck holen D und S dann regelmäßig Wasser von einem Feuerwehrhydranten. Natürlich ist diese Lösung nicht wirklich autark. Mit einem größeren Wassertank wäre es vielleicht möglich, genug Regenwasser in den regenreichen Monaten zu sammeln, um die dürren Monate zu überbrücken. So habe ich es bei der Solawi in Naulitz beobachtet. Als ich diese Idee vorschlage, erzählt mir D von seinem Teichprojekt. Hinter der Hütte soll nämlich eines Tages ein kleiner Teich entstehen, der Regenwasser speichern soll. Doch andere Projekte haben derzeit Vorrang.
In der Provence herrscht im Sommer große Waldbrandgefahr. Um das Brandrisiko zu verringern, setzen D und S Schafe und Ziegen ein, die zuverlässsig das Unterholz beweiden. Die Tiere laufen frei im Wald herum und fressen alles ab, was sie erreichen können. Selbst herabhängende Äste bleiben nicht verschont. Die Tiere haben den umliegenden Wald bis zu ihrer Stehhöhe völlig kahl gefressen und der Wald sieht aus, als hätten englische Gärtner diesen streng beschnitten. Ich stelle fest, dass Ziegen und Schafe offenbar sehr genügsam und außerdem ausgezeichnete Freischneider sind.
Eine meiner Aufgaben bei D und S ist es, morgens die Ziegen und Schafe aus dem Stall zu lassen und sie abends wieder hinein zu bringen. Dabei leisten mir drei Hütehunde Gesellschaft, die sichtlich Freude daran haben, die Ziegen einzukreisen und zu scheuchen.
Doch da ist noch der Ziegenbock Fifi. Fifi ist kein gewöhnlicher Ziegenbock, denn er ist in etwa so groß wie ein Kalb. D erzählt mir, dass selbst erfahrene Schäfer ihm sagen, dass sie noch nie einen solchen Bock gesehen haben. Fifi darf nicht frei herumlaufen, sondern ist zwischen zwei Bäumen angekettet und wird mit Heu gefüttert. Als ich nach dem Grund frage, erzählt mir D die folgende Geschichte:
Nach seiner Geburt wurde Fifi von seiner Mutter verstoßen. D und S zogen ihn mit der Flasche groß und ließen ihn im Haus wohnen. Doch mit der Zeit wurde Fifi immer größer und stärker. Mit seiner Pubertät wurde Fifi aggressiv. Eines Tages hörte D wie seine Frau S um Hilfe schrie. Als er sie erblickte, stand sie auf dem Dach ihres Autos und der rasende Fifi war im Begriff ihr zu folgen. Sie schrie: "Bring diesen Teufelsbock um!". Da dachte D nicht lange nach und holte eine Pistole. Er schoss Fifi direkt zwischen die Augen. Der Bock taumelte in ein Gebüsch und verschwand. Nach kurzer Zeit kam Fifi zurück. Er hatte sich beruhigt. Etwas Blut tröpfelte aus seiner Nase, doch ansonsten schien er unverletzt. Auf dem Boden fanden D und S die abgeflachte Kugel, die vom dicken Schädel des Bocks abgeprallt war. Daraufhin beschlossen sie, dass Fifi kein gewöhnlicher Bock war und dass sie ihn nicht töten durften. Sie ließen ihn leben, aber ketteten ihn von nun an vorsichtshalber an.

Es gibt auch einen kleinen Gemüsegarten bei D und S, doch bei der Hitze ist alles vertrocknet und es gibt dort nichts zu tun.
Das Ende des Monats macht sich bemerkbar. D und S haben nur ein geringes Einkommen, müssen an allen Ecken sparen. Der Bau eines neuen Hundezwingers mit dem wir angefangen haben, verzögert sich, weil das Benzin für den Generator und die Scheiben für den Winkelschleifer fehlen. Selbst beim Trinkwasser wird rationiert. Ich erhalte zwei Flaschen Mineralwasser am Tag, welche mir nicht ausreichen. Heimlich koche ich in meinem Wohnwagen Wasser auf, dass ich den moosigen IBC-Containern hinter dem Kompostklo entnehme.
Letzteres besteht aus einer Klobrille und einem Eimer, der mit einer schwarzen Plastiktüte bespannt ist. Die vollen Tüten sammeln D und S, um sie im Winter zu verbrennen. Ich erzähle von den Komposttrenntoiletten, die ich im Wendland kennenlernte und davon wie gut diese dort funktionieren. Meine Worte stoßen auf laues Interesse.
Abends, wenn die Temperaturen wieder sinken, kommen Freunde von D zum Pétanquespielen. Dieses Spiel ist fester Bestandteil der örtlichen Kultur und wird sehr ernst genommen. Als Gast werde ich sofort in dieses Kugelspiel eingebunden. Die Freunde eröffnen mir eine neue Perspektive auf dieses provencalische Spiel und ich erkenne eine ungeahnte Komplexität. Geredet wird während des Spiels kaum. Niederlagen werden ebenso ernst genommen wie Siege und für Gespräche über anderes als das Spiel ist kaum Raum. Erst wenn es bereits dunkelt, neigt sich das Spiel dem Ende und es wird Zeit für das Abendbrot. Die Freunde sind trinkfreudig und fast jeden Abend wird eine Flasche Whisky getrunken. Es fällt mir leicht, mich dem Gelage zu entziehen und ich bin froh, in dieser ruppigen Männergruppe nüchterne Gedanken zu behalten. Mit Gemeinschaft haben diese Abende für mich wenig zu tun. Sobald die Gruppe einen bestimmten Pegel erreicht hat, hört niemand mehr dem anderen zu und das Gespräch wird zu einer Überlagerung ungefragter Antworten auf einsamen Monologen.
Nachts sinken die Temperaturen auf 32°C. Ich verzichte auf meinen Schlafsack.
Der Fluss der Träume im Herzen des Vars
Nach einer Woche verlasse ich den Wohnanhänger im trocknen Eichenwald und fahre weiter nach Le Thoronet im Herzen der Region Var. Hier treffe ich S, eine mutige Mutter, die gerade ihr gesamtes Leben umgestellt hat. Seit der Trennung vom Vater ihres Sohnes arbeitet sie an der Verwirklichung eines Traums. Sie kauft ein Haus mit großem Grundstück am Ufer des Flusses l’Argens. Dort möchte sie kulturelle Angebote mit ökologischem Anspruch für Kinder schaffen.
Auf dem Grundstück befindet sich ein Hühnerstall, ein Agroforst-Garten mit vielen Obstbäumen und Gemüseanbau, eine ungenutzte Wiese und ein kleines Waldstückchen, das bis zum Argens reicht. Außerdem steht ein Mobilheim im Garten des Wohnhauses. S wohnt darin und das Haus steht noch leer. Künftig jedoch, soll es eine Wohngruppe von Menschen mit Begleitungsbedarf beheimaten. Das Haus soll zu einer Gemeinschaft für Menschen mit geringem sozialen Anschluss werden. Die Mieteinnahmen sollen das Kulturprojekt für Kinder finanzieren.
Einen Tag nach meiner Ankunft setzt der in der Provence typische Wetterumbruch am Ende des Augusts ein. Starker Regen wirbelt den staubigen Boden auf und die Temperaturen fallen von 42°C auf 13°C. Auf der Veranda des Mobilheims machen wir uns Tee und S lädt mich und die beiden anderen Freiwilligen zum gemeinsamen Dachdenken ein. Sie möchte die Fläche zu einem innovativen Spielplatz für Kinder gestalten. Es sollen ungewöhnliche Spielelemente entstehen, die die Kreativität und das Geschick der Kinder fördern. Außerdem soll ein Bühnenbereich entstehen, ein Heilpflanzengarten. und eine essbare Hecke. Während der Regen auf das Dach der Veranda prasselt, verlieren wir uns in einem kreativen Fluss, der nur so schäumt mit Ideen und Konzepten.
Nach diesem ersten regnerischen Tag wird es wieder sonnig. Das Projekt ist ganz neu und alles befindet sich im Aufbau. In den ersten Tagen entsteht ein neues Dach für das Plumpsklo, ein Unterstand für die Gartenwerkzeuge und ein neues Regal am Anzuchtshäuschen. Außerdem räumen wir die Garage auf, die noch voller Artefakte der Vorbesitzer ist, und die eines Tages eine Werkstatt werden soll. Mittags und abends kommen wir zum Essen zusammen. S bindet mich und die anderen Freiwilligen eng in ihr persönliches Leben ein. Regelmäßig kommt V, der Partner von S, der einige Kilometer Fluss abwärts in einem Bauwagen wohnt, und hilft bei den Arbeiten mit. Ab und zu spielen wir Karten und einmal unternehmen wir einen Ausflug mit den Kayaks von V und besuchen einen Wasserfall und eine angrenzende Höhle, die einst als Kapelle diente. Gemeinsam besuchen wir einmal ein Konzert in einem Wäldchen, das mich sehr an die Konzerte im Wendland während der kulturellen Landpartie erinnert. Bunte Lichterketten dekorieren den Ort, Menschen jeden Alters sitzen gesellig zusammen und ein Duo aus Akkordeon und Klarinette spielt Weltmusik. Als das alte jiddische Lied "Dona Dona" gespielt wird, fühle ich mich endgültig in meine Wendlandzeit zurückversetzt.
Mein Zelt steht nur wenige Meter vom Flussufer entfernt. Morgens krieche ich aus dem Schlafsack und steige die steile Böschung zum Fluss. Das Wasser ist kühl und glasklar. Es duftet feucht und frisch. Das sprudelnde Geräusch der vielen kleinen Wasserfälle erstickt sofort, wenn mein Kopf unter die Oberfläche taucht. Ich öffne die Augen und erblicke eine fremde Welt. Funkelnd durchbricht das Sonnenlicht das Wasser und taucht alles in ein dunkelgrünes Licht. Ich stoße mich vom rutschigen Felsen ab, auf dem ich stehe und lasse mich sinken. Ein bizarrer Wald aus umgestürzten Bäumen erstreckt sich vor mir. Ihre Rinden sind dicht mit grünem Moos bewachsen und Fische durchstreifen die Astkronen wie einst Vögel. Ich folge ihnen in dieses wässrige Labyrinth und durchschwimme einen dichten Vorhang smaragdenen Seegrases. Auf der anderen Seite erblicke ich ein altes Holzfass, das wie ein alter Fels auf dem Grund des Flusses liegt. Wie lang es wohl hier liegt? Der Strom des Flusses ist wie der Strom der Zeit. In seinem Inneren bleibt alles stehen, es herrscht völlige Stille. Tief unter dem reißenden Geplätscher der sprudelnden Oberfläche ist es, als wäre der Fluss die Zeit selbst. Ich tauche ab und werde Teil von ihr. Einen Tag so zu beginnen ist wie ein Geschenk.




