Schwarzstorch in Schnega

Südkreis

Der Südkreis, der südlichste Teil des Wendlands, ist erreicht. Die Umgebung ist hier wilder als im restlichen Wendland. Bäche und viele Quellen durchziehen große Wildwiesen, die von kleinen Wäldern umringt werden. In der Nähe von Schnega liegt ein kleines Sackgassendörfchen. Dort treffe ich M und D, die einen Kulturverein auf ihrem Hof in Gledeberg betreiben. Das Konzept ist verlockend: Konzerte und Veranstaltungen, viel Kunst und Kultur und dazu gesundes und leckeres Essen, denn M ist Koch.
Der Hof ist einladend. Im Innenhof spenden einige Obstbäume Schatten. Hühner laufen umher und einige tummeln sich auf dem Komposthaufen. Auf dem Gelände befindet sich ein Wohnhaus, mehrere Scheunen, eine Schafswiese mit Stall und ein großer Gemüsegarten, der den Bedarf von M’s Restaurant zum Großteil deckt.
Freiwillige Helferinnen und Helfer sind hier sehr willkommen und so wurde auch ich ohne Zögern aufgenommen. Das Arbeitspensum ist sehr angenehm. Morgens vor dem Frühstück wird etwas im Garten gearbeitet, Beikraut gejähtet, ein Beet gehackt, gewässert oder gepflanzt. Am späten Vormittag wird gemeinsam gefrühstückt. Danach herrscht Siestastimmung. Kleinigkeiten werden noch hier und da erledigt, aber für größere Arbeiten werden die kühleren Abendstunden abgewartet. Die Kunst des Pausierens wird geübt. Wir gehen spazieren, machen ein Nickerchen oder sitzen im kühlen Schatten.
Am Abend geht es für ein paar Stündchen zurück in den Garten. Stress oder Druck spüre ich hier nicht. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Reise kann ich meinen Tatendrang etwas zügeln und entspannen. Die Schwalben vollführen ihre waghalsigen Kunstflugmanöver zur vollen Mittagszeit und ich beobachte das Spektakel vom schattigen Sofa aus. Vögel fühlen sich hier wohl. Die Luft ist dicht mit Vogelstimmen beladen. Abends gleitet ein Kauz geräuschlos in die Nacht und auf einem Spaziergang durch die Auenlandschaft sehen wir einen Schwarzstorch.
M und D haben schon viele Abenteuer erlebt und ich höre ihnen gerne zu. Ihre Geschichten wecken meine Neugierde auf die Welt und bald schon zieht es mich weiter, raus aus dem Wendland und rein ins Unbekannte. Nach etwas mehr als einer Woche in Gledeberg besteige ich schließlich wieder mein Fahrrad und nehme Kurs auf Kassel. Die Balance aus An- und Entspannung ist für mich die wichtigste Erfahrung aus Gledeberg. Ich verlassse den Ort mit frischem Urvertrauen, neuen Ideen und neuen Freundschaften.

Niedersachsende

Meinen Weg nach Kassel werde ich in drei Teile gliedern. Am ersten Tag fahre ich 90 km zu meinen Freunden F und H in der Nähe von Peine. Die Fahrt ist erschöpfend, mein Schnupfen ist noch nicht völlig verheilt und es ist äußerst warm. Ich brauche zwei volle Tage, um mich zu erholen. In dieser Zeit genieße ich die Gastfreundschaft meiner Freunde. Ich kann mich völlig entspannen und meinen Schnupfen auskurieren.
Die zweite Etappe führt mich bis nach Göttingen. Die Strecke misst über 120 km, was mit dem Klapprad eine Herausforderung ist. Überraschenderweise fühle ich mich bis zum Schluss wohl und leide nicht am Gefühl meine körperlichen Grenzen zu übertreten. In Göttingen belohne ich meinen Körper und Geist mit einer Nacht im Hostel. Ein echtes Bett, eine warme Dusche und ein schönes Essen päppeln mich wieder auf. Am nächsten Tag fahre ich zunächst etwa 40 km bis nach Escherode zu den gASTWERKEN. Es handelt sich hierbei um eine größere Lebensgemeinschaft mit Solawi. Die Fahrt geht über zwei Berggipfel und zum ersten Mal in dieser Reise muss ich mein Fahrrad schieben.

Hügellandschaft um Göttingen
Hügellandschaft um Göttingen

Etwa eine Stunde benötige ich jeweils für die Anstiege mit insgesamt 700 m Höhe. Die Talfahrten sind dafür rasant, sodass ich insgesamt nur etwa 3 Stunden für die Fahrt brauche.
Bei den gASTWERKEN angekommen stelle ich mich mit meinem Reisekonzept vor. Leider ist man dort nicht auf spontane Besucher eingestellt. Ich verlasse den Ort bereits nach wenigen Minuten.
Die Absage schmerzt. Ich habe die letzten 250 km fest damit gerechnet in Escherode bleiben zu können.
Trotzdem empfinde ich Verständnis für die Entscheidung und ärgere mich etwas über mich selbst.
Nach einer Pause an einem Stromkasten in Escherode fällt mir wieder ein, dass D und M aus Gledeberg Freunde im nahegelegenen Witzenhausen haben, die dort Harfen in einer ehemaligen Zigarrenfabrik (Brasilia) bauen. Ich nehme Kontakt auf und erhalte nach wenigen Stunden eine Zusage. Über einen weiteren Berg gelange ich abends nach Witzenhausen, wo ich P, K, G und D treffe. Die Grenze zu Niedersachsen habe ich irgendwo passiert.

Brasilia

Passenderweise verbringe ich in Witzenhausen eine besonders lustige Zeit. Die Arbeit in der Harfenwerkstatt ist geprägt von Musik, Gepfeife und Geschleife, Gelächter und Gezupfe. Wir trinken viel Espresso, belohnen unsere Arbeit mit verzüglichem Essen, mit dem wir uns gegenseitig bekochen. Es herrscht eine Atmosphäre, in der wir aufeinander achten und füreinander sorgen. Zu Beginn der gemeinsamen Mahlzeiten besteht der dreijährige G stets auf ein kleines Ritual, bei dem wir unsere Hände halten und einen kleinen Reim aufsagen. Mich beeindruckt dieses kindliche Ritual, weil es uns kurz vor dem Essen miteinander verbindet und so ein Gefühl von geteilter Dankbarkeit für das bevorstehende Mahl schafft. Ohne es zu beabsichtigen, schweißt der kleine G uns Erwachsenen zusammen. Sein Spielen bringt mich hin und wieder dazu, die Grenzen meiner Komfortzone zu verlassen und über mich hinauszuwachsen. Wir Erwachsenen führen eine freundschaftliche Beziehung, die durch die Anwesenheit von G oft eine familiäre Vertrautheit erlangt.
In diesem Umfeld bereitet mir die Arbeit eine große Freude, die vom Gedanken an den kollektiven Fortschritt getragen wird. Ich fühle, dass ich nicht nur für mein eigenes Wohlergehen arbeite, sondern für das Wohlergehen der Gemeinschaft. Dieses Gefühl kombiniert sich mit dem Gedanken, dass auch die anderen Freude am Fortschritt der Gemeinschaft empfinden. So entsteht ein Hochgefühl, das die Arbeit zum Vergnügen macht. Das erklärt für mich meinen Drang zum Pfeifen, Summen und Tanzen, während ich Stunde um Stunde Holz schleife.
Doch was erzeugt diese gegenseitige Wertschätzung und dieses Gefühl von Verbundenheit? Eine Beantwortung dieser Frage gelingt mir nicht. Ich scheue mich sogar davor, mich wirklich mit der Frage zu befassen. Zumindest im direkten Zusammenhang mit meiner Zeit in der Brasilia, wehrt sich etwas in mir, die Frage nach dem Grund für das Gemeinschaftsgefühl mit analytischen Methoden zu sezieren. Schließlich manifestiert sich das Gemeinschaftsgefühl durch die Empfindung einer vertrauten Freundschaft, und diese Freundschaft möchte ich mit meinem Herzen erfühlen und nicht mit meinem Kopf zerlegen. Während mir weiterhin erklärende Worte für die magischen Hintergründe menschlicher Gemeinschaft fehlen, hat die Zeit in der Brasilia meinen Empfindungshorizont geweitet und mich reich mit Freundschaft beschenkt.
Dennoch, wie nach einem ausgezeichneten Dessert nach einem mehrgängigem Festmahl, fühle ich meinen emotionalen Bauch in angenehmer Sättigung prall gespannt. Die rasante Entwicklung einer freundschaftlichen Beziehung zu Menschen, die mir vorher völlig fremd waren, hat mir viel Freude bereitet, aber auch Kraft gekostet. Mir steht der Sinn danach, die vielen freudigen Emotionen zu verdauen und mich in dieser Zeit aus dem bunten Treiben der Gemeinschaft zurückzuziehen.
Es ist eine Freundschaft entstanden, die wie ein junger Obstbaum Früchte und Wurzeln gleichermaßen austreibt. Es fühlt sich für mich so an, als wäre nun die Zeit gekommen, die Wurzeln des zarten Bäumchens durch Geduld und Zeit zu stärken. Und so ziehe ich bereits nach 12 Tagen weiter und verlasse die Brasilia.

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