An einem grauen Herbsttag verlasse ich Freiburg in einem Regionalzug nach Breisach am Rhein. Die Luft ist gesättigt vom Geplauder der vielen Fahrgäste. Als ich in Breisach aussteige, atme ich die feuchte kühle Luft und besteige zum ersten Mal seit Monaten wieder mein treues Klapprad.
Es geht um eine Kurve, ich folge einer Unterführung und schon bin ich auf der Rheinbrücke, die die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich darstellt. Auf deutscher Seite noch, fallen mir einige Tabakwarenläden und Kioske auf, die mit ihrer Aufschrift Bar Tabac und den angebotenen Croissants bereits sehr französisch wirken. Ich überquere den Rhein und danke ihm gedanklich für die sichere Überführung. Er tut mir Leid der Rhein. Der mächtige Fluss wird gestaut und eingeengt. Dünne Rinnsale schwappen über die Stauwände, während die Fluten sich durch stählerne Turbinen zwängen, mit denen Strom für das französische Unternehmen EDF gewonnen wird. Der Rhein ist ein in Ketten gelegter Drache.
Auf der französischen Seite lassen nur die Ortsnamen auf die Nähe von Deutschland schließen. Deutsche Totto Lottos gibt es an der Grenze nicht.
Ich komme an Neuf-Brisach vorbei, einem befestigten Dorf, dessen Mauern sternförmig angeordnet sind. Innen wirkt der Ort leer und verlassen. Einen Supermarkt gibt es noch, der Bäcker und der Lebensmittelladen haben diesen Sommer geschlossen.
Hinter Neuf-Brisach erstrecken sich endlose Maisfelder. Das Elsass liegt vor mir, eine weite, flache Ebene, die mich unweigerlich an die Monokulturen Niedersachsens erinnert. Hinter mir durchzieht die Bergkette des Schwarzwalds den Horizont, vor mir türmen sich die Vogesen.
Mein Weg führt mich nach Colmar. Dort entdecke ich eine vom Tourismus ausgehöhlte Altstadt. Große Restaurants und zahllose Souvenirshops säumen die gepflasterten Gassen. Ich würde mich gerne in einem Café ausruhen, doch finde ich keines, das mich anzieht. Schließlich setze ich mich einfach auf eine Bank in der Fußgängerzone.
Das Erdgeschoss Colmars besteht aus gläsernen Schaufenstern, Supermärkten, Modeläden und Werbeplakaten, die es kaum von Erdgeschössen anderer touristischer Städte unterscheiden lassen. Erst der Blick nach oben auf die reichverzierten Fachwerke mit den bunten Gefachen zeigt mir schließlich Colmars Einzigartigkeit.
Ich verlasse Colmar. An lautbefahrenen Départemental-Straßen balanciere ich auf dem weißen Fahrbahnstreifen, um nicht zu eng von den vielen Lastwägen überholt zu werden. Der reichliche Gegenwind bremst mich aus und nur mühsam komme ich nach Munster. Ein Flüsschen zieht sich durch diese ruhige Stadt. Es weitet sich im Park zu einem Ententeich, an dessen Ufern ich eine weitere Rast einlege. Das flache Elsass ist durchquert und vor mir liegen die Vogesen. Ich sammle meine Kräfte für den Aufstieg. Etwa 1000 Höhenmeter muss ich noch bis zum Col de la Schlucht überwinden, dem Tor zum Land der Vogesen.
Ganz sacht beginnt mein Steigen. Erst im dritten, dann im zweiten, schließlich im ersten Gang komme ich bis zum Chemin du Tramway, einem Forstweg, der zum Col de la Schlucht führt.
Schon nach wenigen Meter muss ich mein Fahrrad schieben. Nach einer Kurve verengt sich der Forstweg zum steinigen Pfad. Die kleinen Reifen meines Gefährts blockieren im Geröll und ich muss meinen Rucksack schultern, um weiterzukommen. Mit beachtlicher Steigung führt der Pfad geradewegs nach oben. Nur sehr mühevoll komme ich voran. Alle paar Minuten muss ich verschnaufen. Auf den großen Steinen, die sich auf dem Weg stapeln, rutsche ich immer wieder aus und trotz der kühlen Temperaturen ziehe ich nach und nach erst die Jacke, dann den Pullover aus. Nach etwa einer halben Stunde ist mein Shirt völlig durchnässt und ich habe erst 500m hinter mich gelegt. Weitere 1.5km fehlen bis zum Col de la Schlucht. Ich begegne einem Ornithologen, der gerade sein Nachtlager aufbaut, um hier eine seltene Eulenart zu fotografieren. Wir tauschen uns kurz aus und er berichtet mir, dass dieser Weg selten benutzt wird und der Wald in diesem Bereich daher noch wild und artenreich ist. Er wünscht mir Glück für den weiteren Aufstieg und warnt mich vor dem letzten Streckenabschnitt, der besonders steil und unwegsam sein soll. Das kann ich mir kaum vorstellen, denn bereits jetzt erkämpfe ich mir jeden Meter. Immer wieder muss ich das Fahrrad über einen umgestürzten Baum hieven, oder durch einen kleinen Bach waten. Als die Dämmerung nach einer weiteren Stunde langsam einsetzt, gebe ich mein Tagesetappenziel, eine Schutzhütte in der Nähe des Gipfels auf, und schlage ein Nachtlager auf. Meine Kleidung ist durchnässt vom Schweiß. Ich hänge mein Shirt zum Trocknen über mein Fahrrad, bevor ich mich ins Zelt zurückziehe und zügig einschlafe.
Am nächsten Morgen blitzt die Sonne durch den Eingang meines Zeltes.
Ich fühle mich ausgeruht und kann die Schönheit des moosigen Waldes plötzlich voll und ganz wertschätzen. Als ich wenig später aufbreche, kommt mir der steinige Steilweg nicht mehr so unbezwingbar vor. Es fehlen noch ca. 500m Weg bis zum Ende des Pfades, für die ich etwa eine halbe Stunde brauche. Ich komme schließlich zu einer asphaltierten Straße und erblicke die Schutzhütte, in der ich ursprünglich nächtigen wollte. Sie ist verschlossen, stelle ich fest, außerdem zugemüllt und unfreundlich. Eine tiefe Dankbarkeit erfüllt mich und ich bin froh mich nicht für diesen Rastplatz entschieden zu haben.
Die Straße führt weiter nach oben, diesmal kann ich aber fahren, ohne abzusteigen. Nach einer Weile erreiche ich die Aussichtsplattform, la Roche du Diable, und kurz darauf bin ich am Gipfel des Col de la Schlucht.

Der Hof
Nach einer langen Talfahrt erreiche ich die Stadt Gérardmer und kurze Zeit später meinen Zielort: ein kleiner Bauernhof auf 750 Höhenmetern. Hier leben D und M mit ihren beiden Kindern. Sie halten sechs Esel, die sie für Wanderungen verleihen und für den Gartenbau nutzen. Halbwilde Highland Rinder beweiden die Flächen rund um den Hof. Den kollektiven Hühnerstall teilen sich D und M mit ihren Nachbarn. Wer ein Ei entnimmt, macht einen Strich auf einer Liste und die Kosten werden anteilig geteilt. D ist Gärtner und baut Gemüse und Obst auf verschiedenen kleinen Parzellen und in einem Folientunnel an. Seit diesem Jahr baut D auch Hanf mit legaler Cannabinoid-Zusammensetzung an, doch dazu später mehr.
Ich werde herzlich begrüßt und erhalte eine großzügige Unterkunft, in der ich mich von der anstregenden Fahrt erholen kann. Erst am nächsten Morgen beginnen wir mit den Arbeiten auf dem Hof. Das begrünte Dach eines Nachbarhauses soll nachgebessert werden. Dazu tragen wir von unten beginnend die erdschweren Pflanzstreifen ab, um an die darunterliegende Folienbahn zu kommen. Das Ziel ist, die Überlappungsfläche der Folienbahnen zu erhöhen, weil das Dach teilweise undicht ist. Wir kommen gut voran und die Arbeit macht mir Spaß, doch gegen Mittag beginnt es zu regnen und wir müssen die Arbeiten unterbrechen. Beim Mittagsessen frage ich D nach den Vorteilen von Gründächern. Er antwortet mir, dass Gründächer sehr gut isolieren und für eine angenehme Raumakustik sorgen. Sie sehen außerdem schön aus, füge ich hinzu, aber sind sie nicht ganz schön schwer? Die Dächer in der Region sind ohnehin für große Schneelasten ausgelegt, sagt D, das Gewicht der Erde und der Pflanzen würde keinen Unterschied für die Auslegung des Dachstuhls machen. Allerdings sei es mit einem Gründach kaum möglich Regenwasser zurückzugewinnen.
Die Bedeutung Folklorischer Tänze
D und M haben beide früher an folklorischen Tänzen teilgenommen. Was fasziniert zwei so weltoffene und wache Menschen an vermeintlich verstaubten Traditionstänzen, frage ich die beiden frei heraus. M und D erzählen mir von der Zugänglichkeit dieser Tänze. Sie sind inklusiv, leicht zu erlernen und können, einmal gemeistert, immer weiter ausgeschmückt werden. Sie bringen Tanzende mit völlig unterschiedlichem Können zusammen. Nähe und Berührungen werden ganz natürlich ausgetauscht, ohne dass vorher Beziehungsformen ausgedacht oder ausgesprochen werden müssen. Partnerwechsel erzeugen ständig neue Begegnungen. Beziehungen entwickeln sich, können entstehen, oder wachsen und reifen. Die Tänze bieten darüber hinaus einen niedrigschwelligen Zugang zu Körperlichkeit und zur Erfahrung der eigenen Präsenz im Raum. Folklorische Tänze öffnen einen kommunikativen Raum und wirken gemeinschaftsstiftend und friedensbildend. Gespannt lausche ich diesen Worten und bin kaum überrascht zu erfahren, dass sich M und D beim Tanzen kennenlernten. Früher war das wahrscheinlich einmal üblich, dass sich Liebende beim Tanzen kennenlernen. In den Clubs tanzt heutzutage jede (Person) für sich. Für die Liebe gibt es jetzt Apps. Was ist die Aufgabe von Kultur?
Cannabis
Es ist ein kühler Morgen. D und ich sind früh aufgestanden und warten auf einen Freund, Mi, mit dem wir heute in eine ehemalige Käsefabrik fahren werden, um dort CBD-Cannabis zu verarbeiten, das D und Mi gemeinsam angebaut haben.
Nach einer Stunde Fahrt erreichen wir den Ort. Das Fabrikgelände ist riesig. Der Gebäudekomplex ist heruntergekommen, aber nicht verlassen. Mehrere kleine Unternehmen mieten hier günstige Räumlichkeiten.
Wir fahren mit einem Lastenaufzug nach oben. Neonlichter schieben sich an uns vorbei. Als sich im obersten Stockwerk die Türen öffnen, begrüßt uns ein schwerer Cannabisduft. Das Treppenhaus liegt im Halbdunkel der Aufzugbeleuchtung. Fenster gibt es keine. Nach wenigen Schritten wird es so düster, dass wir unsere Taschenlampen einschalten. Wir erreichen eine selbstgezimmerte Holztür aus OSB-Platten. Hier hören wir die Schritte von C, einem Freund von Mi, der ein mittelständiges CBD-Unternehmen mit seinem Bruder Ma betreibt. D und Mi dürfen die Maschinen von C und seinem Bruder Ma für die eigene Ernte nutzen, wenn sie im Gegenzug einige Pflanzen von C und Ma verarbeiten.
Auf der gesamten Etage trocknen C und Ma ihre Cannabis-Pflanzen mit Hilfe industrieller Luftentfeuchter. Auf dem Weg zum Verarbeitungsraum durchqueren wir ein Labyrinth von gefließten Räumen und Fluren, von denen einige in völliger Dunkelheit liegen. Von der Decke hängen hunderte Cannabis-Pflanzen, die Luft dröhnt vom Brausen der Ventilatoren. An einigen Pflanzen macht C halt und lässt uns die komplexen Aromen der unterschiedlichsten Sorten riechen. Manche duften nach Waldbeeren, andere nach Mango. Die Vielfalt verblüfft mich.
Im Verarbeitungsraum stehen zwei Maschinen, die dazu dienen die Blüten von der restlichen Pflanze zu trennen. Zunächst schneiden wir längliche Äste von den ganzen Pflanzen ab. Diese stecken wir mit dem breiten Ende voran in eine Maschine, die die Äste mit zwei Gummiwalzen greift und durch ein enges Loch zieht. Dabei reißen die Blätter und Blüten ab und fallen in einen Korb. Dieser wird anschließend zur zweiten Maschine gebracht, die aus einer rotierenden Gittertrommel besteht, gegen die ein rundes Messer dreht. Die Maschine schneidet überstehende Blätter ab. Ein Gebläse pustet alle leichten Pflanzenteile in einen Filtersack. In der Gittertrommel bleiben nach kurzer Zeit nur noch die gereinigten Blüten. Diese werden danach von Hand mit einer kleinen Schere getrimmt. Mir wird klar welcher enorme Aufwand hinter der Produktion von Cannabis-Blüten steckt.
Cannabis enthält von Natur verschiedene Cannabinoide, von denen vorallem das Molekül THC die bekannten und oft unerwünschten psychoaktive WIrkung entfaltet. Je nach Sorte kann die Zusammensetzung der wirksamen Cannabinoide stark variieren. CBD-Cannabis-Sorten enthalten im Vergleich einen sehr geringen Anteil THC und stattdessen mehr der anderen Cananbinoide z.B. CBD, CBC oder CBG. Diesen werden erstaunliche Heilwirkungen nachgesagt. Allerdings lerne ich auch, dass die Qualität der meisten CBD-Produkte minderwertig ist und oft chemische Prozesse verwendet werden, um den THC-Gehalt künstlich herabzusetzen. Von solchen Produkten raten mir C, Ma und Mi ab. Nichtsdestotrotz gibt es kleine und unabhängige Bio-Cannabiszüchter wie Mi und D, die auf natürliche Weise Pflanzen mit geringen THC- und hohen CBD-Gehalten züchten.
Gedankenmosaik
In einem Kino prasselt der Regen auf das Dach. Die Lichter werden gelöscht, und im Augenblick da Saal und Leinwand völlig verdunkelt vor mir liegen, höre ich die Regentropfen wie von fern. Jeder von ihnen ist ein Wort, ein Gesicht, ein Gefühl. Ich lehne mich in den Sitz und Gespräche der letzten Tage spulen sich vor mir ab. D, der vom Anhalterfahren in Rumänien erzählt, von anderen Gebärden, von unausgesprochenen Codes, die den Autofahrern das gewünschte Reiseziel erzählen, ohne, dass ein Schild notwendig wäre. Das Gesicht von Ce taucht auf, die von der Gastfreundschaft der Menschen in Japan zu berichten weiß. Wie per Anhalter fahrende Menschen mit höchster Ehrbietung bereitwillig mitgenommen werden, wobei ungeheure Umwege wie selbstverständlich in Kauf genommen werden. Das Bild verändert sich, wir reisen per TER durch Frankreich und D rechnet mir vor, dass der Zug mit knapp 100 km/h führe, wenn statt einer Oberleitung die pedalgenerierte Energie strampelnder Fahrgäste die elektrischen Motoren der Lokomotive antrieben.
Abschied
Ich verbringe zwei intensive Wochen bei D und M. Beim Abschied sind die beiden Fremden für mich Freunde geworden. Ich verlasse die Vogesen mit vielen neuen Ideen, einem Rucksack voller Abschiedsgeschenke und einem durchgewärmten Herzen.
Es regnet stark und nach wenigen Kilometern beschließe ich, mich an den Straßenrand zu stellen und es per Anhalter zu versuchen. Ein Auto hält nach kurzer Zeit an und fährt mich zu einem Kreisel am Ausgang von Gérardmer, von dem aus eine Straße nach Colmar führt. Hier steige ich wieder aus und stelle mich an den Straßenrand. Der Regen durchweicht meine Kleidung und mein Rucksack lastet schwer auf meinen Schultern. Nach einer halben Stunde spüre ich meine durchgefrorenen Finger kaum. "Ich warte noch zehn Minuten, dann versuche ich es doch mit dem Fahrrad" — sage ich zu mir selbt. Nach neun Minuten hält ein weißer Lieferwagen. Ein etwas ruppiger Mann blafft mich an und fragt, was ich mir dabei dächte, so am Straßenrand zu stehen. Doch als der Mann erkennt, dass ich keine bösen Absichten habe, ändert sich sein Ton sofort. Er bietet mir an, mich bis zum Col de Schlucht zu fahren, von dort aus geht es nur noch bergab bis zur nächsten Stadt Munster. Für ihn ist diese Fahrt ein Umweg von über 20km. Er erzählt mir auf der Fahrt von seinen Motorradreisen nach Deutschland. Oben angekommen, hilft mir der Mann beim Ausladen meines Gepäcks und wir verabschieden uns mit einem Lebewohl.
Hier oben ist es noch viel kälter als im Tal. Die Temperaturen liegen knapp über Null und der Wind fegt einen eisigen Schneeregen um die Skilifte.
Als ich in Munster ankomme, sind meine Finger steifgefroren. Doch die Erleichterung lässt mich schnell auftauen. In Munster gibt es nämlich einen Bahnhof und ich gelange von hier aus ohne Probleme zurück nach Colmar. Von dort fahre ich die letzten Kilometer zurück nach Deutschland mit meinem klapprigem Klapprad.