Am Samstag war die Generalprobe. T hat mich tapfer unterstützt. Sie wartete mit Geduld bis ich das gesamte Gepäck am Fahrrad befestigt hatte. Und dann war er da, der Moment des Anhebens. Den Hüftgurt hatte ich mittels zwei Haken an den Haltestangen befestigt. Aus der Hocke erhob ich mich langsam, die Haltestangen dabei fest in beiden Händen. Zunächst kam die Erleichterung, da das Anheben viel leichter ging als erwartet. Dann kam das Wundern, denn ich hörte ein Knacken und spürte, wie das Gewicht nachließ. Es folgte Erkenntnis: das Y-Stück war gebrochen. Es hatte sich ein bogenförmiger Riss in der Nähe der Schweißnaht gebildet. Schließlich Fassungslosigkeit über die Vergänglichkeit monatelanger Arbeit, die in Sekunden zunichte war. Ich fiel Teresa in die Arme, völlig verdattert und meiner Emotionen noch nicht im Klaren. Nur langsam und mit ausreichender Verwirrung wurde ich mir des aufkommenden Gefühls bewusst. Erleichterung. Ja, offenbar hatte tief in mir ein Zweifel an der Idee des Wanderns bestanden. All die Arbeit, all die Investitionen in Material und Werkzeug… sie waren der Preis für die Entscheidung gewesen, diese Reise mit dem Fahrrad anzutreten.
Es ist erstaunlich, wie blind das Auge manchmal für das Offensichtliche ist. Ich ziehe meine Lehre daraus. Das Herz findet einen Weg sein Begehren zu erfüllen. Der beste Weg dort hin ist allerdings ohne die Umwege des Egos.
Montag Abfahrt
Am Morgen des 1. Mais frühstückte ich ein vorerst letztes Mal mit T in der Küche unserer WG. Gegen 9:20 Uhr begann ich damit, das Gepäck am Fahrrad zu verzurren. Die Sonne schien, es war ein warmer Frühlingstag. Mein Bauch war etwas flau. All die Monate bis hier hin hatte ich voller Vorfreude auf diesen Tag geblickt. Doch nun wurde mir schrecklich bewusst, dass meine Abreise auch einen schmerzhaften Abschied von T bedeutete. Immerhin war heute ein Feiertag, sodass T mir angeboten hatte, mich ein Stückchen zu begleiten. Bis nach Winsen an der Luhe wollte sie mitkommen, und dann von dort mit dem Zug nach Hause fahren. Sie hatte einen großen Teil des Sonntags damit verbracht, eine Route für uns zu planen, die versprach, besonders schön zu werden. Es ging los. Vorbei an einigen Seen, von denen mir etwas die Hälfte schon von Badeausflügen bekannt war. Wir machten einen Schlenker nach Norden in Richtung Elbe. Auf dem Weg schlossen wir uns kurz einer Gruppe von Radreisender an, die uns zu Feldern voller seltener Schachbrettblumen führten. Die Sonne schien mit voller Kraft, die Luft war erfüllt von Vogelgesang und Blumenduft und die satten grünen Wiesen waren von vielen tausenden violetten und weißen Schachbrettblumen durchzogen. Der Anblick war malerisch und T und ich waren von Glückseligkeit erfüllt. Als ich dann noch kurz einen schwarzen, flinken Vogel mit leuchtend-gelber Brust erblickte, war ich von Anmut für die schöpferische Kraft der Natur überwältigt. Einen Pirol zu sehen war seit längerer Zeit ein Traum von mir, und ich hatte mir immer gesagt, dass ich auf dieser Reise die Gelegenheit dazu finden würde. Nun war er da, der Pirol, und das schon am ersten Tage. Ich war von Liebe und Glück durchdrungen.
Wir fuhren weiter, kamen an der Elbe an, wo wir einen kleinen, versteckten Strand für eine erste, kurze Rast fanden. Danach ging es über einen Fahrradweg auf einem verschlungenen Deich weiter. Der Norden Deutschlands zeigte sich heute von seiner schönsten Seite. Die Wiesen standen in voller Blühte, Löwenzahn bildete gelbe Farbklekse und die Luft war voller glücklicher Insekten.
Wir erreichten Winsen etwa um 13 Uhr. Im Schlosspark setzten T und ich uns zusammen und berieten über das weitere Vorgehen. Sich so früh am Tage zu verabschieden wollten wir beide nicht. Wir entschlossen uns gemeinsam weiter zu fahren, erst in Richtung Luhdorf, dann wollten wir an Radbruch vorbei über Vögelsen und schließlich bis Lüneburg, wo wir noch ein gemeinsames Essen zu uns nehmen wollten.
Wir erreichten nach etwa einer Stunde eine Kreuzung in einem Waldstück. Dort fragten wir zwei Reiterinnen nach dem Weg. Offenbar hatten wir Luhdorf bereits passiert und steuerten nun auf Radbruch zu. Wir blickten ein weiteres Mal auf die Karte und entschieden, doch nicht durch Radbruch zu fahren, sondern stattdessen eine Abkürzung durch Mechtersen zu nehmen. Nach mehreren Abzweigungen kamen wir in Mechtersen an. Von dort ging es über einen stillgelegten Bahndamm Richtung Vögelsen. Am Ende des Damms bogen wir nach links und gelangten in ein Dorf. Wir freuten uns schon und hielten es für Vögelsen, stellten dann allerdings fest, dass wir nach Bardowick gefahren waren, also einen Umweg gemacht hatten. Da unsere Kräfte schon am Schwinden waren, versetzte uns diese Nachricht einen Schlag. Wir hielten, blickten erneut auf die Karte, machten uns gegenseitig Mut, atmeten durch und bestiegen erneut die Fahrräder. Mit letzter Kraft fuhren wir entlang einer vielbefahrenden Landstraße mehrere Kilometer bergauf. Ächzend erreichten wir den höchsten Punkt dieser Straße und erblickten mit großer Erleichterung die Kirchtürme Lüneburgs. Sie lagen vor uns und – zu unserer Freude – bergab. Wir ließen uns bis in die Altstadt rollen, suchten kurz ein Restaurant und bestellten schließlich bei einem Italienischen Restaurant mit überaus freundlichem Kellner und gutem Essen. Das Brennen in meinen Beinen ließ nach und nach dem Essen fühlte ich mich zwar matt und müde, aber wieder in der Lage die letzten Kilometer bis zu meinem Schlafplatz in einem Wäldchen zu fahren.
Nach dem Weg bestritt ich den Weg alleine weiter. Es ging in einem Wohngebiet auf einer Straße namens Pirolweg entlang in ein Wäldchen. Mein Zelt schlug ich zwischen Kiefern am Rande eines Rapsfeldes auf. Die Luft war erfüllt vom Gesang vieler Vögel. Heraushören konnte ich Amseln, Rotkehlchen, Ringeltauben, Spechte, Krähen und, wie eine warme Begrüßung, das flötende Gezwitscher eines Pirols. Dieser Tag ist diesem Vogel gewidmet.
Nacht Eins
Die erste Nacht war schwer. Ich lag unbequem auf einer Baumwurzel, sodass ich meine Position ständig anpassen musste. Auch die ungewohnten Geräusche hielten mich wach. Ich hörte eine Eule schuhuen und Hirsche bellten die ganze Nacht wie eine aufgeregte Hundemeute. Gegen 3 Uhr hörte ich aus der Ferne sogar das Heulen von Wölfen. Gespenstig kamen mir allerdings die Geräusche der Güterzüge vor. Das Quietschen der Waggons wurde durch den Wald verzerrt und klang wie das Klagen von Geistern. Trotz der recht großen Entfernung, konnte ich bei einigen vorbeiziehenden Zügen Vibrationen im Boden wahrnehmen.
Tag Zwei
Gegen 7 Uhr hatte ich genug und setzte mich auf. Ich öffnete mein Außenzelt und erblickte einen wolkenbehangenen Himmel. Die Temperaturen waren gefallen und das schöne Frühlingswetter war weg. Es war kalt und ein böiger Wind bließ zuverlässig in meine Gegenrichtung. Die ersten Kilometer meiner Fahrt führten mich auf Irrwegen durch Lüneburg. Schließlich konsultierte ich meine Karte und beschloss in Richtung Meuchefitz zu fahren, also nach Südosten. Da kein direkter Weg dort hinführte, steuerte ich die nächstgrößere Stadt – Bad Bevensen – im Süden von Lüneburg an. Die Fahrt war anstrengend. Ständig verfuhr ich mich und wegen des Wetters waren die Dörfchen, die ich durchquerte menschenleer. Es kam mir vor, als wäre ich der letzte Mensch auf Erden und T fehlte mir sehr.
Ausgelaugt, ausgekühlt, verschwitzt und verwirrt kam ich in Bad Bevensen an. Das Schild in Richtung Bahnhof ließ Gedanken an eine Rückkehr nach Hamburg aufblitzen.
Ziellos fuhr ich zur Stadtmitte und stieg in der Fußgängerzone von meinem Fahrrad ab. Ich wollte mich bei einem Heißgetränk aufwärmen und neue Pläne schmieden.
Ich entschied mich für einen Bioladen mit Bäckerei und Café. Dort aß ich Brötchen und trank etwas Kaffee. In kurzer Zeit, wurde ich von Gästen und Mitarbeiterinnen angesprochen. Diese hatten meinen Rucksack bemerkt und fragten mich nach den Zielen meiner Reise. So entstand ein lockeres Gespräch mit wechselnden Teilnehmenden über verschiedene Projekte zum Thema gemeinschaftliches Wohnen in der Umgebung. Die Gegend von Hitzacker sei einen Besuch wert, oder doch lieber Dannenberg, nach Meuchefitz solle ich oder nach Groß Malchau.
Von letzterem hatte ich noch nicht gehört, und da es auf dem Weg nach Meuchefitz lag, meinem ursprünglichen Tagesziel, das nun jedoch außer Reichweite schien, fasste ich den Entschluss nach Groß Malchau zu fahren. Der Ortsname verschweigt, dass Groß Malchau ziemlich klein und ziemlich schwer zu finden ist. Nach weiteren zahlreichen Irrungen und Durchfahrten durch verlassene Dörfer, klingelte ich schließlich an einer Haustür, um nach dem Weg zu fragen. Dank des Smartphones der lieben Bewohnerin, fand ich schließlich mein Ziel und kam so nach Groß Malchau, wo sich die sozialtherapeutische Einrichtung "Humanopolis" befindet. Wie ich später erfuhr, werden in Humanopolis Jugendliche mit komplizierten Lebensumständen begleitet. Es werden verschiedenste Therapieformen angeboten, das Gelände ist groß, naturreich, bunt und es gibt Pferde und einen kleinen See.
Vor der Tür des Hauptgebäudes sprach ich einige Menschen an und bat meine Mithilfe gegen einen Zeltplatz für die Nacht an. In der Kurzfristigkeit wurde meine Mithilfe dankend abgelehnt, aber immerhin wurde mir die Erlaubnis erteilt, mein Zelt auf einem zugehörigen Grundstück aufzuschlagen.
Ich baute mein kleines Lager auf und fiel in einen seichten Mittagsschlaf. Nach meinem Erwachen stellte ich mich bei der Hausleitung vor. Dort wurde ich sehr freundlich empfangen, man bot mir eine Dusche und eine Küche an und wir kamen in ein anregendes Gespräch über die Einrichtung und über das Wendland. Noch am selben Abend wurde ich einem jungen Mann vorgestellt, der in der Gemeinschaft "Mittendrin Leben" in Harmstorf lebt, etwa 20km nördlich von Groß Malchau. Ich unterhielt mich bis kurz vor Anbruch der Dunkelheit mit ihm. Er und seine Familie hatten vor wenigen Jahren eine ähnliche Reise wie ich unternommen und waren mit dem Auto zu verschiedenen Gemeinschaften in Deutschland gefahren. Sie blieben schließlich in Harmstorf. Wir unterhielten uns über Gemeinschaftsprozesse, über soziokratische Entscheidungen und über ein Brettspiel dazu. Er schlug vor, am nächsten Kennlerntag (Mitte Mai) die Gemeinschaft zu besuchen.
Erfüllt von den Gesprächen kroch ich in meinen Schlafsack und schlief durch.
Tag Drei
Am Morgen des dritten Tages wurde mir eine Führung durch das Gelände von Humanopolis angeboten. So hatte ich die Gelegenheit, den Ort etwas besser kennenzulernen. Nach einem ausgiebigen Rundgang blieb ich noch zu einem Kaffee und unterhielt mich mit einer Therapeutin. Insgesamt war mein kurzer Aufenthalt in Groß Malchau sehr bereichernd, informativ und voller schöner Begegnungen.
Ich fuhr weiter mit Kurs auf Großweddrien, einem Ort in dem ein Mensch mit Holz und Metall arbeitete, der, wie ich im Biomarkt in Bad Bevensen erfuhr, nach Unterstützung zur Vorbereitung der Kulturellen Landpartie suchte. Mal wieder bog ich an einigen Stellen falsch ab und verlängerte auf diese Weise die Strecke. Das Flachland, das Hamburg umgibt, hatte sich in eine seichte Hügellandschaft verwandelt, sodass ich nun auch immer wieder in den ersten Gang schalten musste, um Hügel zu erklimmen.
Ich spürte in meinen Beinen die Anstrengung der ersten beiden Tage und war entsprechend frustriert, als ich nach einer 2km langen Talfahrt in einem Dorf feststellen musste, dass ich den Hügel nicht hinabfahren hätte sollen. Zum Glück hatte man mir die Telefonnummer des Künstlers gegeben. Ich rief an und erfuhr, dass meine Hilfe tatsächlich willkommen sei, dass besagter Mensch allerdings die nächsten Tage verreisen würde und erst zu Beginn der kommenden Woche wiederkäme. Er empfahl mir, nach Groß Wittfeitzen zu fahren, wo zwei befreundete Handwerker arbeiteten. Vielleicht könne man übergangsweise meine Hilfe dort gebrauchen. Das Dorf war nur etwa 20mn Fahrt entfernt und dort angekommen, empfing man mich freundlich. Ich bekam eine kleine Führung durch die Ateliers, in denen ein Tischler Möbel restaurierte und ein Instrumentenbauer Harfen herstellte. Beide Männer verstanden meine Beweggründe sofort und boten mir einen Zeltplatz mit Toilette für die Nacht an. Meine Hilfe konnten die beiden allerdings vorerst nicht gebrauchen. Stattdessen nannten sie mir viele weitere Anlaufpunkte, darunter Gemeinschaften und Solawis. Trotz einiger kleiner Misserfolge, war der Ball ins Rollen gekommen. Mittlerweile hatte ich bereits eine handvoll Anlaufpunkte und sogar einen Zeltplatz für die Nacht.
Zuerst fuhr ich nach Marlin zu einer Solawi mit Hofgemeinschaft. Für die Fahrt brauchte ich etwa 20mn. Die genaue Adresse auszumachen, war leicht, denn schon im Ortseingang entdeckte ich die Folientunnel und Gewächshäuser der Solawi. Ich fuhr auf den Hof und stellte mich dort mit meinem Anliegen vor. Der Geschäftsführer hieß meine Hilfe willkommen und bot mir sogar ein kleines Zimmer, das ich dankend annahm. Wir einigten uns darauf, dass ich etwa vier Tage mithelfen und -wohnen würde. Noch am gleichen Tag lernte ich die Mehrheit der Belegschaft kennen, von denen etwa die Häfte in meinem Alter war. In der Hof-WG habe ich mich sofort wohl gefühlt.