Die Zeit ist eine Freundin

Wir durchstoßen die Wasseroberfläche, Luftblasen brausen dicht vor der Scheibe vorbei, die uns vom kühlen Wasser des Nordatlantiks trennt. Die Wellen brechen gurgelnd über unseren Köpfen während wir langsam tiefer sinken. Nach den ersten Metern spüren wir die Kraft der Bewegung der Wasseroberfläche über uns nur noch sanft. Ein tiefes Blau umgibt uns, und Ruhe stellt sich ein. An der Glasscheibe rinnt nur noch ein dünner Bläschenstrom und bald ist es, als wäre die Glasscheibe völlig mit dem Wasser vereint. Ein neugieriger Mondfisch taucht in unserem Blickfeld auf. Er beäugt uns mit schwarzen Knopfaugen und verschwindet nach kurzer Zeit in der Tiefe des Blaus. Die Dämmerung der Tiefe beginnt. Bei etwa 70m Tiefe ist die Wasseroberfläche nur noch als schwacher Schimmer in einem Meer der Schwärze zu erkennen. Von den Wellen über uns ist nichts mehr zu spüren. Der steigende Druck hat ihre Bewegungen erstickt. Ihr Plätschern hallt leise in uns nach, während sich die Schwärze um uns immer weiter verdichtet, bis sie fest scheint, unbeweglich und vollkommen. Wir sinken weiter. Nach einigen Hundert Metern zieht sich ein schillerndes Band bunter Lichter durch unser Blickfeld. Mit einer sanften Schleife verschwindet es in unserem Rücken, um dann erneut vor uns zu erscheinen und schließlich in der Dunkelheit abzutauchen. Stille. In wenigen Minuten erreichen wir den Grund bei etwa 3800 Metern Tiefe.
Mit einem dumpfen Stoß setzen wir auf dem schlammigen Grund auf. Der sanfte Impuls wirbelt den organischen Staub der vergangenen Jahrtausende zu einer mächtigen Wolke auf, die unser Scheinwerferlicht in hellen Erdfarben zurückwirft. Die Wolke steigt auf und verharrt schließlich in der völligen Bewegungslosigkeit der ewigen Nacht wie ein kolossales Denkmal vergangener Leben. Nur langsam und mit unendlicher Geduld erinnert die Schwerkraft jedes Partikel einzeln an seinen angestammten Platz, so dass sich die Sicht auf das völlige Schwarz allmählich lichtet.
Unsere Blicke erkunden den fremden Ort. Eine sanft gewellte Landschaft erfüllt die hellen Kegel unserer Lampen. Die weichen Hügel und ihre Täler bestehen aus dem gleichen Staub, wie die Wolke, die nun nur noch ein schwacher Nebel ist. Trotz der völligen Bewegungslosigkeit dieser dickflüssigen Nacht wabert der Boden. In sanften Wogen pulsieren die Hügel und Täler. Die Körner des feinen Staubs sind zu klein für die Schwerkraft, der es nicht gelingen will diesen Nebel der Jahrtausende zu einem Untergrund zu verdichten und so trotzt der Tanz der Teilchen dem bleiernen Druck der Finsternis.
In unserem Augenwinkel gleitet ein Schatten vorbei. Unsere Körper verharren, während unsere Herzen den Strom unserer Gedanken befeuern. Woher kam dieser Schatten? Sind wir in dieser stillen Wüste etwa nicht allein? Gibt es anderes Leben in dieser unwirklichen Gegend?
Zischend atmen wir die Luft unserer Sauerstofftanks ein. Vor uns gleitet mit offensichtlicher Mühelosigkeit ein Hai. Er hat die Länge eines kleinen Lastwagens. Seine Haut ist grau wie mumifizierte Knochen. Sein Kopf ist wie ein Flussstein, dessen Ecken und Kanten auf der Suche nach dem kleinstmöglichen Widerstand durch den Zahn der Zeit abgetragen wurden. Neugierig betrachtet die stumpfen, graublauen Augen die Reflektion unseres Lichts auf dem wabernden Grund. Er dreht eine Schleife. Langsam, mit kaum feststellbarem Schwung schiebt sich der Hai auf uns zu, öffnet das überraschend kleine Maul mit der stumpfen Schnauze und mit einer Stimme, die wie eine verstaubte Schallplatte knistert und knackt, beginnt er zu sprechen.
Ich heiße Wôdan. Hier im Reich des Staubes lebe ich. Das Leben von Oben beendet seine Reise in meinem Reich. Wer mich trifft, wird zu Staub. Mein Fleisch ist so alt wie die Eiszeit. Mein Geist ist so alt wie die Dunkelheit selbst. Aus dem Schoße der Zeit wurde ich geboren und als ihr Bote komme ich an die Oberwelt, wo ich den Kreis des Aufsteigens und Absinkens schließe.

Alles schwingt

Ich wache aus einem wirren Schlaf auf. Langsam komme ich zu mir und beginne zu erinnern. Vor kurzem sah ich eine Dokumentation über den Grönlandhai, die mich tief in meinem Innern nachhaltig beeindruckt hat. Dieser Riese der Tiefsee ist ein lebendiges Fabelwesen. Unter seinen vielen Besonderheiten ist sein Alter für mich die herausstechendste. Der Grönlandhai wird einige Jahrhunderte alt. Es gibt heute noch lebendige Grönlandhaie, die zu Lebzeiten von Mozart, Beethoven und Goethe bereits hundert Jahre alt waren. Diese Haie überleben also viele unserer Generationen. Was uns wie eine lange Zeit vorkommt, muss sich für Grönlandhaie wie eine kurze Phase anfühlen. Es geht noch weiter. Der Grönlandhai bewegt sich äußerst langsam und schwimmt mit ungefähr 2 Kilometern pro Stunde durch sein geheimnisvolles Habitat. Alles an ihm scheint sich in einer verlangsamten Zeitblase abzuspielen. Wie nimmt ein solches Tier die Welt wahr? Meine Vergangenheit als Ingenieur verleitet mich dazu, mathematische Erklärungen für diese Fragen auszutüfteln. Ein nützliches Modell für unsere Realität ist, dass alles aus Schwingungen besteht. In der Quantenphysik ist sogar feste Materie eine Art energetische Schwingung. Denken wir an unser Sehen und Hören, so lässt sich dies anschaulich darstellen. Die Geräusche, die wir hören und das Licht, das wir sehen, bestehen aus schwingenden Energiewellen. Wenn wir Licht oder Schall wahrnehmen, dann registrieren wir aber nicht die einzelnen Energiepulse, sondern ordnen den wahrgenommenen Signalen je nach Schwingungsfrequenz automatisch bestimmte Eindrücke zu. An einem Beispiel lässt sich das gut nachvollziehen. Grünes Licht ist eine elektromagnetische Welle, die etwa 575 \cdot 10^{12} (575 und dann noch 12 Nullen) Mal pro Sekunde schwingt. Anstatt jede Schwingung einzeln wahrzunehmen, stellt sich bei uns der Eindruck grünen Lichts ein. Es ist analog mit hohen oder tiefen Tönen. Obwohl wir nicht in der Lage sind 575 \cdot 10^{12} Schwingungen pro Sekunde zu sehen, können wir erstaunlicher Weise grünes Licht von gelben Licht (\approx 515 \cdot 10^{12} \text{ Hz}) unterscheiden. Mathematisch gesehen, betrachten wir die Welt der Schwingungen nicht im sogenannten Zeitbereich, in der jede einzelne Schwingung in einer zeitlichen Abfolge wahrgenommen wird, sondern im Frequenzbereich, wo jeder Schwingungsfrequenz ein Sinneseindruck zugeschrieben wird. Die Fouriertransformation aus der höheren Mathematik ermöglicht uns die Überführung von zeitlichen Signalen in den Frequenzbereich. Eine wichtige Größe bei dieser Umrechnung ist die sogenannte Abtastrate. Diese beschreibt mit welcher Frequenz wir ein Signal messen, das wir danach in den Frequenzbereich überführen möchten. Stellen wir uns einen Stop-Motion-Film von einem schwingenden Pendel vor. Wenn die Aufnahme der einzelnen Fotos in einem größeren Zeitabstand als die Schwingungszeit des Pendels geschieht, dann können wir die einzelnen Schwingungsperioden des Pendels nicht mehr voneinander unterscheiden. Aus dieser Ausgangslage können wir die Frequenz des Pendels nicht mehr korrekt feststellen.

Abtastrate Schwingung

Das obere Diagramm zeigt, was im Stop-Motion-Beispiel passiert. Die durchgezogene Linie zeigt die Schwingung des Pendels. Die roten Stecknadeln markieren die Zeitpunkte, zu denen die Kamera ausgelöst wird. Die schwarzen Punkte markieren, wo sich das Pendel bei jedem Foto befindet. Die gestrichelte Linie verbindet diese Punkte. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Schwingungsfrequenz der gestrichelten Linie kleiner ist, als die der durchgezogenen Linie. Das zeigt, dass die Schwingung des Pendels in unserem Stop-Motion-Film langsamer erscheint.
Wenn wir uns vorstellen, dass wir unser Leben als Aneinanderreihung von Momenten erfahren, ähnlich wie bei einem Stop-Motion-Film, dann wird klar, dass die Frequenz mit der wir diese Momente erfahren einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat. Übrigens gehen diese Überlegungen auf Harry Nyquist zurück und die notwendige Abtastrate zur korrekten Erfassung eines Signals wird Nyquist-Frequenz genannt.

Der Hai und die Zeit

Zurück zu unserem Grönlandhai. Alles im Leben dieses Hais erfolgt in einem deutlich langsameren Rhythmus als bei uns Menschen. Wie nimmt ein Hai das Leben war? Erscheinen ihm alle hochfrequenten Schwingungen verlangsamt? Wäre eine grüne Wiese für ihn womöglich rot? Kommen dem Hai 2 Kilometer pro Stunde viel schneller vor als uns, weil ihm Stunden viel kürzer erscheinen? Was würde uns ein Hai angesichts einer schwierigen Lebenssituation raten? Abwarten und Tee trinken, die Zeit heilt alle Wunden. Was ist mit den globalen Veränderungen, die uns gerade so aussichtslos erscheinen, und die wahrscheinlich alles Leben auf dieser Welt betreffen?
Der Grönlandhai hat die gesamte Industrialisierung, die Weltkriege, den kalten Krieg, den Korea- und den Vietnamkrieg und sämtliche Atombomben überlebt. Würden ihn unsere Sorgen aus der Ruhe bringen?
Wer hunderte Jahre alt wird, muss eine Engelsgeduld haben. Wir Menschen sind viel zu ungeduldig, um dem Tod solange zu trotzen. Doch es ist nicht nur der Hai, der diese Geduld aufbringt, sondern auch sein Umfeld. Die Tiefsee ist so konstant, wie kein anderer Bereich unseres Planeten. Weltweit herrscht auf dem Grund der Meere die gleiche Temperatur von etwa -1°C bis 4°C. Dort unten ist so viel Platz und so viel Raum, dass selbst die schwerwiegensten Verschmutzungen durch den Menschen nur langsam vordringen. Erwärmt sich die Atmosphäre weltweit innerhalb weniger Jahrzehnte, so bedeutet das nicht, dass sich die Tiefsee ebenso schnell erwärmt. Was wir von der Tiefsee und vom Grönlandhai lernen können, ist Frieden mit der Zeit zu schließen.

Besinnung

Wir stoßen uns ab. Unsere Beine drücken uns kraftvoll nach oben. Die Dunkelheit löst sich in dunkelblaue Schlieren auf und schließlich verwandelt sich das unduchdringliche Blau in kristallklare Durchsichtigkeit. Wir haben die Oberfläche erreicht. Die Sonne wärmt unsere versteiften Körper und wie Neugeborene saugen wir die frische Seeluft in unsere Lungen. Die Reise zum Grönlandhai ist beendet. Nun sind wir wieder hier, wo die Zeit ein siebter Sinn ist. Ständig müssen wir an sie denken, um nicht irgendwo zu spät zu kommen, Termine zu verpassen, oder Deadlines zu versäumen. In dieser Welt hängen überall Uhren und Kalender, die uns daran erinnern, dass Tage aus genau 24 Stunden bestehen und Jahre aus 365 Tagen. Für Viele ist das Leben nur ein Countdown zum Rentenalter, von dem sie sich Erlösung vom Druck der Zeit erhoffen. Doch sind sie einmal so alt, stellen sie fest, wie viel mehr Zeit sie doch als junge Menschen noch hatten. Sie sind gefangen im Rad des Zeithamsters, der sie mit den Zeigern der Uhr auspeitschen will.
In einer besonders hektischen Minute bricht etwas in uns. Wir bleiben stehen, atmen durch, lassen den nächsten Termin sausen und erinnern uns mit plötzlicher Seeligkeit an unseren Freund, dem Grönlandhai. Was würde er nur zu unserem Kampf mit der Zeit sagen? Er würde uns, vielleicht, an eine Zeit aus seiner Kindheit erinnern, als der Mensch sich noch nicht an seinen eigenen Maschinen maß. Einer Zeit, wo Uhren Luxus und Kalender selten waren. In dieser Zeit lebte der Mensch im Rhythmus der Sonne. Mit ihrem Aufgang beschritt er den Tag, zu ihrem Untergang legte er sich zur Ruhe. Das Jahresspiel der Erdlaufbahn ließ das Getreide auf den Feldern reifen und jede Jahreszeit hatte dabei einen wichtigen Anteil. Die Menschen waren damals mit der Zeit befreundet. Sie heilte wunden, brachte Rat und Trost. Die Zeit war der Weg in die Zukunft.
Was ist bloß passiert, dass wir Menschen unserer alten Freundin eines Tages den Rücken kehrten? Wann fingen wir an, sie in kleine Stücke zu teilen, um sie zu messen? In unserem Streben nach Domestizierung der Natur fingen wir an, die Zeit selbst zu domestizieren. Wir haben das Leben zur Ware und die Zeit zur Währung gemacht, denn Zeit ist Geld. Vielen ist bewusst, dass wir für eine nachhaltige Zukunft aufhören müssen, das Leben wie ein Produkt zu behandeln. Ökologie bedeutet Frieden mit der Natur. Doch immer wieder feinden sich Umweltschützerinnen und Umweltschützer mit der Zeit an. Sie sprechen von Zeitnot, von Knappheit von Dringlichkeit und werden dabei so bildlich, dass sie sogar von 5 vor Zwölf sprechen, wenn sie vor Katastrophen warnen. Doch Frieden braucht Heilung und Heilung braucht Zeit.
Uns mit der Natur zu versöhnen, bedeutet zuerst, Frieden mit der Zeit zu schließen. Dazu müssen wir sie aus den Gefängnissen der Zeiteinheiten entlassen, aufhören Jahre, Stunden, Sekunden zu zählen und im Jetzt ankommen.
Der Weg zurück in eine lebenswerte Zukunft führt entlang der Zeit. Die Begegnung mit dem Grönlandhai hat mich ermutigt, mich mit der Zeit zu versöhnen und darauf zu vertrauen, dass sie mir den Weg des Lebens zeigen wird.

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